Annabelle wollte auf keinen Fall ohne ihn verreisen. Doch er hatte – wie schon so oft – keine Zeit.
„Keine Zeit!“, wie sehr sie diesen Ausspruch hasste. Ja, sie hasste diese zwei Worte, die er gepachtet zu haben schien. Für ihn waren sie kein Ausspruch, sondern Anspruch. Keine Zeit zu haben ist das Privileg der Beschäftigten in einer gespaltenen Gesellschaft, wo Arbeitslosigkeit zur Waffe geschmiedet und immer häufiger zur Unterdrückung eingesetzt wurde. Der Kampf um das Recht auf Arbeit wurde auf dem Feld des Egoismus geführt und ohne Opfer waren Kriege nun mal nicht zu führen. Das wusste sie auch. Und sie wollte natürlich auch nicht, dass er als Kollateralschaden ausgetauscht würde. Trotzdem war sie verärgert, denn ihre Vorfreude war groß gewesen und Nächte mit ihm waren schon immer erotische Feuerwerke, Knaller, die sie nicht missen wollte.
Doch nun war sie allein im Hotel.
Nach dem Abendessen ging sie nicht sofort nach oben auf ihr Zimmer, da sie keine Lust auf einen Fernsehabend und ein leeres Doppelbett verspürte. Aber sie wollte auch nicht allein ausgehen, zumal sie sich auch noch nicht gut genug in der fremden Stadt auskannte. Daher hatte sie die Hotelbar, die man durch einen kleinen Gang neben der Rezeption erreichte, aufgesucht. Um diese Zeit waren dort noch recht wenige Gäste versammelt, doch das war ihr egal. Sie suchte keine Unterhaltung, sondern eher das Gegenteil.
Die meisten Gäste waren Paare, die einen Stadturlaub machten oder Geschäftsleute, die wie sie, in der Stadt zu tun hatten und in dem kleinen, feinen Hotel eine Nacht verbrachten.

Sie sah sich um. An zwei Tischchen saßen zwei Paare und an der Bar standen drei Männer. Mehr war hier noch nicht los. Da aber vier Angestellte hinter dem Tresen hantierten, war jedem klar, dass mehr Gäste erwartet wurden.

Annabelle setzte sich auf einen Barhocker am Tresen und bemerkte, dass die drei Männer sehr auffällig zu ihr herüber schauten. Sie tuschelten. Und genau in diesem Moment war ihr klar, dass diese Hockerbesteigung mit Sicherheit den Herren Einblicke verschaffte, die sie nicht beabsichtigt hatte. Der Minirock war für derartige Sitzgelegenheiten nicht optimal.
Oder doch?
Sie überlegte, was die Herren wohl sehen konnten und was jetzt noch zu sehen war, nachdem sie den Rock etwas glatt gestrichen hatte. So sehr sie auch den Saum nach unten schob, er bedeckte nur ein Drittel ihrer wohlgeformten und festen Oberschenkel. Sie trug keine Strumpfhose, sondern hatte dunkelblaue Netzstrümpfe ausgewählt, die von ebenfalls dunkelblauen Strapsen gehalten wurden. Dazwischen musste unwillkürlich bei dieser Sitzposition etwas Haut zu sehen sein, was, wie Annabelle überlegte, bestimmt sehr reizvoll wirkte.
Sie musste lächeln und sofort reagierte einer der Männer, indem er sein Glas anhob und ihr zu prostete.
„Das kann ja heiter werden!“, dachte die so im Blickfeld Sitzende und kam sich sehr einsam und verlassen vor.
Sie fror ein wenig.

„Etwas Wärme braucht der Mensch!“, sagte Annabelle zu einer der Angestellten hinter dem Tresen und ließ sich einen weiteren Becher des köstlichen Getränks geben, das sie als „Hausbecher für kalte Stunden“ in der hübsch gestalteten Karte entdeckt hatte. Früchte in einem blauen See, dessen Wasser es in sich hatte. Sie spürte bereits nach dem ersten Becher eine leichte Rötung über ihr Gesicht huschen und nahm es gelassen, weil zu ihrem roten Haar Blässe nicht passte. Zu kontrastreich, fand sie und kippte den zweiten Becher fast in einem Zug in sich hinein. Das war heftig. Die Wirkung merkte man nur daran, dass sie die nächsten Becher „Blautöpfchen“ taufte.
Sie dachte an den Workaholic, den sie in Dortmund zurückgelassen hatte. Dass sie sich hier so unwohl fühlte, war seine Schuld! Da nützte es auch nichts, dass er ihr ein Päckchen mit einer roten Schleife zum Abschied in die Hand gedrückt hatte. Sie dürfe es erst abends im Hotelbettchen öffnen. Doch sie hatte es am ersten Tag nicht geöffnet und sie war sich auch nicht sicher, ob sie das heute tun würde.
Dafür bestellte sie lieber noch ein Blautöpfchen. Die taten ihr so richtig gut und auch der Umstand, dass inzwischen viele Gäste den Weg in die Bar gefunden hatten, war ihr angenehm. Alle Hocker waren jetzt besetzt, fast ausschließlich von Damen, deren Begleiter hinter oder neben ihnen standen.
Annabelle dagegen wurde umringt von Männern, die sich einen Spaß daraus machten, mit ihr Blautöpfchen zu bestellen. Was die Männer jedoch nicht wahrhaben wollten, dass Annabelle hoch geeicht war und aufrecht auf ihrem Hocker saß, während die Herren der Schöpfung teilweise eine leichte Schräglage erreichten. Annabelle saß nicht steif, doch kerzengerade auf ihrem Barhocker. Nur der Minirock war etwas höher gerutscht, was sie jetzt nicht mehr störte. Einer der Männer legte seine Hand auf das Fleckchen Haut, das zwischen Strumpf und Rocksaum blank und verlockend sichtbar war…
Sie lächelte den verwegenen Helden an, worauf er mutig wurde und sie ein wenig in das weiche Fleisch kniff. Wieder lächelte Annabelle, so, dass alle es beobachten konnten, dem Wüstling ins Gesicht…
„Mein Herr!“, sagte sie dabei plötzlich und so laut, dass man es in der hintersten Ecke der Bar deutlich hörte, „würden Sie bitte ihre Hand aus meinem Höschen nehmen!“
Der Held verschwand kurz darauf sehr unauffällig und mit hochrotem Kopf.

Annabelle bestellte lächelnd eine weitere Runde Blautöpfchen für die restlichen Herren um sie herum.
Ganz dicht hinter ihr stand einer, der auch nicht mehr sicher auf den Beinen war. Immer wieder, wohl aber nicht absichtlich, berührte sein Körper den ihren. Und jedes Mal, wenn dies geschah, durchzog sie ein Feuerstoß, der nicht von den Blautöpfchen ausgelöst wurde.
„Hoppla!“, lachte sie und malte sich aus, was jetzt geschehen würde, wenn sie hinter sich fasste und mit ihrer linken Hand dem schwankenden Männchen den Hosenschlitz öffnete. Der Gedanke machte ihr richtig Spaß und sie überlegte, wie sie es anstellen könnte, ohne bei den übrigen Herren Aufmerksamkeit zu erregen. Dazu war aber die Bar dann doch noch nicht voll genug und so ließ sie den reizvollen Gedanken wieder fallen.
„Schade!“, stöhnte sie halblaut und alle wollten sofort wissen was denn nun schade sei. Doch Annabelle entschloss sich, ihr kleines Geheimnis nicht zu verraten.
Sie bestellte noch ein Blautöpfchen, trank es leer und gähnte hinter vorgehaltener Hand, doch gut sichtbar. Dann streifte sie das aufreizend hochgeschobene Röckchen wieder etwas tiefer, rutschte sehr lasziv vom Hocker, schüttelte die roten Locken und lächelte, so, als habe sie nur Wasser getrunken.
„So, meine Herren, mein Bettchen ruft mich, da muss ich gehorchen!“, rief sie gutgelaunt in die Runde und verschwand in Richtung Aufzug, bevor überhaupt einer der Männer auch nur ansatzweise verstand, dass für sie alle der Abend gelaufen war…

„Scheiße!“, fluchte Annabelle wenig später wie ein Rossknecht, als sie ihr Zimmer aufschloss und sich ihrer Einsamkeit bewusst wurde.
Sie dachte an den Workaholic, den sie in Dortmund zurückgelassen hatte und den sie verfluchte und nach dem sie sich sehnte. Jetzt mehr denn je, wo die Blautöpfchen und die Männer in der Bar sie wild und heiß und unberechenbar gemacht hatten.
Noch hätte sie wieder nach unten in die Bar gehen und sich den nettesten der Männer angeln können. Sie war sich sicher, dass keiner von ihnen ihre Einladung abgelehnt hätte. Doch dann verwarf sie den Gedanken, lief zur Tür und verriegelte diese.

Während die hübsche Frau sich auszuziehen begann, den Minirock und das raffiniert geschnittene Oberteil hatte sie bereits über einen Stuhl geworfen, besah sie sich im von einer Goldleiste umrandeten Wandspiegel. Sie lachte vergnügt. Wenn die Herren sie so sehen könnten, würden sie glatt ausrasten. Die blauen Netzstrümpfe und die ebenfalls blauen Strapse leuchteten verführerisch. Belustigt sah sie den Kontrast zu ihrer blassen Haut, doch dann erschrak Annabelle doch heftig.
„Mein Gott“, stöhnte sie, denn außer dem Blau in dem ihre Beine steckten und dem Blau der Strapse, war da nur Haut, wundervoll glatte und zarte Haut. „wo zum Teufel ist mein Höschen?“
Sie stellte sich jetzt erst richtig vor, was die Männer wohl alles gesehen hatten. Sie überlegte, wo und wie sie den Tag verbrachte. Überall war sie gewesen und natürlich hatte sie sich auch gebückt und Treppen bestiegen. Da mussten viele Mitmenschen mehr gesehen haben, als die bürgerliche Moral erlaubte. Jetzt musste sie lachen, laut lachen, denn ändern konnte sie es nicht. Da war es nur gut, in der fremden Stadt zu sein. Zuhause hätten die Leute geflüstert, mit dem Finger auf sie gezeigt und schon immer gewusst, dass diese Annabelle eine ganz Schlimme war.
Annabelle besah sich lange im Spiegel, berührte auch die Stelle, an der nichts war und ein feines weißes Höschen hätte sein sollen. Sie überlegte, warum sie nicht gefroren hatte, als die Oktoberluft gegen Abend merklich abkühlte. Doch sie fror nicht. Nicht am Tag und jetzt erst recht nicht, wo die Blautöpfen zum einen und ihr Spiegelbild im Besonderen sie erotisierten, wie es ihr Workaholic vielleicht nicht einmal geschafft hätte. Doch jetzt stand sie allein vor ihrem Spiegelbild und in ihrem Kopf wuchsen Wunschvorstellungen zu überdimensionalen Fantasien.
Sie ließ sich ganz langsam auf den Teppichboden gleiten, beobachtete dabei im Spiegel ihr erotisierendes Abbild, schloss dann die Augen und begann zu träumen…
Sie lag nicht sehr damenhaft keusch auf dem Boden, umgeben von fünf Männern, die auf sie herunter starrten. Annabelle sah die kleinen Zuckungen in den Hosen aus dieser Perspektive überdeutlich. Jetzt oder nie, dachte sie, und wünschte sich, die Männer würden die Hosen öffnen und ihr intensiv beweisen, dass sie echte Kerle waren. Doch keiner tat es, so sehr sie ihre Fantasie auch bemühte. Ihr ganzer Körper bebte und zitterte und ein Feuer ergriff sie, als müsste sie wie eine Hexe im Mittelalter verbrennen, nur war das in dieser Oktobernacht des Jahres 2007 kein schreckliches Endzeiterlebnis, sondern ein unbeschreiblich tiefes Gefühl, dass der blaue Inhalt von zwölf Blautöpfchen auf dem Weg von den feuerroten Lippen, über Zunge und Speiseröhre, bis in den zarten Bauch dieser wunderschönen Frau auslöste. Annabelle stöhnte lustvoll, denn dieses Gefühl konnten nur Schmetterlinge im Bauch verursachen. Ob diese blau sein könnten, war Annabelle jetzt total egal…

  • Art Erzählung
  • Jahr 2013