Untergang d. Stadt Balk003

  • der Untergang der Stadt Balk - Titelillustration zu der märchenhaften Geschichte
  • Erzählung: „Wenn du Koks brauchst, Kindchen, bist du bei mir an der falschen Adresse“, sagte die Frau. Dabei kicherte sie widerlich. Ich wich einen Schritt zurück. Sah ich aus wie eine die Stoff brauchte? Warum sprach sie mich auf diese dubiose Weise an? Die Frau lehnte an einer Birke, die mit anderen zusammen eine Art Moorallee werden sollte. Doch der beständige Wind hatte den Bäumchen früh den Spaß am Wachsen genommen. Sie ließen sich verbiegen und verloren viel von dem, was Birken so stolz erscheinen läßt. Nur die eine, an der die Frau lehnte, trug ihre Krone mit viel Würde hoch über allem. Ich kannte jeden Baum. Nicht mit Namen, aber immerhin. Vom Haus über die moorigen Wiesen, bis hin zum See war es nicht weit. Das war mein täglicher Spaziergang. Allein, in der Stille der Natur, auf dem federnd weichen Boden dahin zu schreiten, das liebte ich. Schon als Kind mochte ich die Einsamkeit. „Geh nicht zu weit“, rief mir früher die Großmutter nach, die soviel von Moorhexen und Feentänzen erzählt hatte, dass ich mich eigentlich hätte fürchten müssen. Aber da ich kein einziges Mal auf ein Wesen aus ihren oft recht gruseligen Geschichten traf, hielt sich meine Furcht in Grenzen. „Nur im Frühjahr, wenn die Igel erwachen, tanzen die Feen nicht“, flüsterte die Großmutter geheimnisvoll und schüttelte ihren weißhaarigen Kopf, dass die kürzeren Haare, die nicht in den großen Knoten im Nacken eingebunden waren, wie wild um das scharfsinnige Antlitz flogen. In den Sommerferien zog ich dann Abend für Abend hinaus, um Moorhexen und Feen zu suchen. Aber das Glück war nicht auf meiner Seite. Frösche hörte ich quaken und kleinere Vögel flatterten hoch, wenn ich ihren Schlafplätzen zu nahe kam. Kein Feentanz, nur Stille. Lautlos begleitete mich eine Schleiereule mit dem sicheren Instinkt der Jägerin. In einer lauwarmen Vollmondnacht schien mein Ziel zum Greifen nah. Traumhafte Melodien drangen an mein Ohr. So wunderschön und zart, dass ich sogar meinen damaligen Liebeskummer vergaß. Aber es war nur der Gesang einer Nachtigall... „Du bist ein Glückskind“, jubelte meine Großmutter, „eine Nachtigall zu hören ist das Privileg kleiner Engel“. Trotzdem blieb ich enttäuscht. Der Liebeskummer kam zurück und ich litt bis hin zu den Herbstferien. „Im Winter bin ich oft über den See gelaufen. Er war zugefroren. Man konnte das andere Ufer zu Fuß erreichen. Am Tag waren kreischende Kinder auf dem Eis“. Die Großmutter machte eine Pause, um die Wirkung ihrer Geschichte zu beobachten. Meine Wangen glühten. Zufrieden fuhr sie fort: „Arbeitsscheue kamen auch hierher, denn unser Wirt hatte einen Getränkestand dort aufgestellt und verkaufte heiße Honigmilch an Kinder und Mütter, aber auch Glühwein an diese Taugenichtse, die, statt zur Arbeit, zum See kamen. Pfui Teufel!“ Dabei spuckte meine Großmutter, die immer fein und damenhaft wirkte, wie ein Rossknecht auf den Steinboden, was mich anekelte. „An eiskalten Abenden, wenn Großvater hinter seiner Tageszeitung einnickte, nahm ich ihm das Weinglas aus der Hand, legte eine Decke über seine Beine und noch ein Buchenscheit ins Feuer und wanderte hinaus über den See. Es war still. Zu kleinen Eiskristallen gefror mein Atem in der Luft. Und wenn das Eis unter mir knarrte und krachte, stiegen viele kleine Angstwölkchen in die Lüfte. Trotzdem ging ich immer wieder hinaus. Denn dort drüben am Südwestufer tanzten sie in den Nächten auf dem Eis und wenn ich ganz leise war, konnte ich sogar ihren Gesang hören...” „Wer tanzte und sang auf dem Eis?“, wollte ich wissen. „Die Feen und Moorhexen der Wingst“, sagte die Großmutter mit fester Stimme. „Das war nämlich so. Früher, einige Großväter vor deinem Großvater, blühte und gedieh, unterhalb der Wingster Berge, die Stadt Balk. Es war eine reiche Stadt, deren Bewohner ein üppiges Dasein führen konnten, weil sie gute Kaufleute in ihren Reihen hatten. Sie fuhren mit großen Pferdefuhrwerken und feinen Kutschen auf die Märkte im Land Hadeln, boten ihre Waren an und kauften reichlich ein. Diese Balker brachten neben Geld, auch einen Hauch ihres feinen Lebens in unsere Flecken. Und da sie wohlhabend waren, sah man sie gern. Es soll aber eine gottlose Gesellschaft gewesen sein. In die Kirchen ging sie nicht. Der Balker Pfarrer predigte sonntags vor leeren Bänken und der Klingelbeutel litt an chronischer Magersucht. Nur einmal riefen sie nach dem frommen Mann, weil ein Sterbender das Abendmahl begehrte. Willig trabte der Gottesmann zu dem feinen Anwesen, wo zahlreiche Gäste ihn erwarteten. Doch im Bett lag kein Mensch, sondern ein Schwein, dem sie Kleider angezogen hatten. Der Pfarrer erschrak nicht schlecht. Doch als die vielen Leute ihn auch noch auslachten, verfluchte er die Balker samt ihrer Stadt“. „Und was geschah danach?“ Ich fieberte dem Fortgang der Geschichte entgegen. „Es geschah, was geschehen musste, mein Kind“, fuhr meine Großmutter fort. „In jener Nacht öffnete sich der Himmel weit und ein sintflutartiger Regen trieb ungeheuerliche Wassermassen durch die Straßen der Stadt Balk. Der fromme Gottesmann flüchtete in die Wingster Berge hinauf. Hinter ihm tobte ein Meer. Als er sich nochmals umsah, war die Stadt Balk bereits im Wasser versunken“. „Das ist ja schrecklich grausam!“, sagte ich entsetzt. Meine Vorstellung von der Entstehung des Balksees war ganz anders gewesen. „Grausam?!“ Meine Großmutter schrie mich an. „Was ist grausam daran, wenn unser Herrgott die Gottlosen vernichtet?“ Sie schnaubte wie ein wütendes Walross. Obwohl ich noch nie einem wütenden Walross begegnet war, wußte ich, dass nur wütende Walrösser derart schnaubten. „Du sollst deine Feinde lieben wie dich selbst, steht in der Bibel“, sagte ich leise. „Ach Bibel, Bibel, Bibel...“ Die Großmutter wurde zornig. Ihr Atem ging heftig. „Und die armen Kinder“, bohrte ich nach, „waren die schuld an dem, was die Alten getan hatten?“ Meine Großmutter schwieg. Zwei senkrechten Fältchen erschienen über ihrer Nasenwurzel. „Vielleicht“, sagte sie bedächtig leise, „vielleicht wurden die Seelen unschuldiger Kinder zu Feen“. Wieder schwieg sie lange. „Und die gottlosen Balker verwandelten sich in Moorhexen!“ versuchte ich zu lästern. Die alte Frau schnaubte nicht, sondern lächelte. “Recht hast du, mein Kind!” sagte sie versonnen, “ganz recht.“ Und dann fügte sie leise hinzu, dass ihr Herrgott schon immer ein zuverlässiger Richter gewesen sei. „Wenn du Koks brauchst, Kindchen, bist du bei mir an der wirklich falschen Adresse.“ Die Frau irritierte mich nicht nur wegen derselben Frage. Sie lehnte immer noch herausfordernd an der Birke, wie eine von der Reeperbahn, die auf Männerfang aus war. Aber weder sah ich wie ein Mann aus, noch waren wir in der großen Stadt. Auf meinen Spaziergängen traf ich so gut wie nie jemand. Schon gar nicht derartige Damen. Was wollte sie hier? Sie war groß und auffallend angezogen. Der überkurze Minirock lenkte unwillkürlich den Blick auf die langen, kräftigen Schenkel, die bis zur Hälfte in engschaftigen Stiefeln steckten. Zu allem Überfluss basierte ihr extravagantes Schuhwerk auf zwölf Zentimeter hohen Pfennigabsätzen, mit denen man hier im Moor beim besten Willen nicht gehen konnte. Über dem Röckchen spannte sich eine Art Wollschal um das breite Becken. Der war knallrot und betonte die Hüften, über denen ein breiter Gürtel den Körper zu einer Wespentaille einschnürte. Mein Blick wanderte höher. Ein Blouson aus Lackleder hatte sich die Dame über die Schultern gehängt. Dort, wo wir Frauen stolz unsere Brüste zeigen, war sie platt wie ein Brett. Dadurch erinnerte sie mich an eine übergroße Birne. Ich musste lächeln. Und sofort reagierte die Frau mit einer fahrigen Kopfbewegung, so, als müsse sie das lange, lockenlos über die Schulter herabhängende Haar aus dem Gesicht rütteln. Und wieder musste ich lächeln, denn das Gesicht kannte ich. Es erinnerte mich an eine der millionenfachen Kopien aus der Barbie-Welt! „Was starrst du mich so an, Kindchen?“, fragte die Puppe. Röte schoss mir ins Gesicht. Nicht, weil diese Puppe sprechen konnte. Es war Scham. Hässlich wie ein Mann hatte ich die andere Frau gemustert. Ihre extralangen Beine faszinierten mich. Was sollte das? War ich neidisch? Warum hatte ich der anderen nicht zuerst in das Puppengesicht und die Augen geschaut? Aber noch während ich mich schalt, trafen unsere Blicke aufeinander. Geschockt starrte mein Gegenüber an. Eiswürfelkälte blitzte aus den türkisgrünen Pupillen. Unwillkürlich wich ich zwei Schritte zurück. Jetzt lächelte die Puppe. „Hast du Angst, Kindchen?“ Energisch schüttelte ich meinen Kopf. Aber meine Kiefer schepperten unaufhaltsam mit den Zähnen gegeneinander. Nochmals schüttelte ich verneinend den Kopf. „Du brauchst also doch Koks, Kindchen, du schnatterst ja!“ Wenn sie nur nicht immer Kindchen zu mir sagte. Das machte mich ganz nervös. Vorsichtig tasteten meine Füße nach hinten. Zwei weitere Schritte. Abstand. Dabei vermied ich nochmals den Eiswürfelaugen zu begegnen. „Wo willst du hin, Kindchen?“ „Zur Stadt Balk“, hörte ich mich stottern, obwohl es undenkbar war, so weit und dorthin zu gehen. „Gut, Kindchen, ich nehme dich mit“, sagte die Frau unter der Birke und stieß sich mit solcher Wucht von dem Baumstamm ab, daß sie plötzlich direkt vor mir stand. Ich erschrak heftig. Sie kicherte. Eine Wolke aufdringlichen Parfums hüllte mich ein und jetzt, da ihr Gesicht ganz nah vor mir war, fiel mir die etwas zu große und zu spitze Nase auf. Sie erinnerte mich an eine extravagante Art von Greifvogel. „Komm, Kindchen, ich bringe dich nach Balk“. Was hatte sie gesagt? Balk war doch die versunkene Stadt aus Großmutters Geschichte. Gab es sie doch und wo war sie? Ich wollte keinesfalls mit der Fremden gehen. Doch langsam griff Neugier nach mir. „Wo ist die Stadt Balk?“, wollte ich wissen. Unruhig, doch gleichzeitig von Neugier getrieben, suchten meine Augen die Moorwiesen nach einem Auto oder anderem Gefährt ab. Die Barbiepuppe lachte. „Wir reisen auf meine Art, Kindchen“. Plötzlich saß sie auf einem Besen. „Steig auf, Kindchen!“, kicherte sie belustigt über meine Ahnungslosigkeit. „Nein, nein, nein!“ Ich schrie. „Steig auf!“, befahl sie. Ihr Atem schwefelte. Es war das erste Mal, dass sie nicht „Kindchen“ zu mir sagte. Das verlieh mir das trügerische Gefühl ihr gewachsen zu sein... Die Nacht war kalt. Eisig blähte der Wind meine Wangen als wir hoch über den Baumwipfeln flogen. Ich schüttelte mich. Angst hatte ich nicht, das stellte ich erstaunt fest. Der Besen hatte keine Griffe. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Fremde an den Hüften zu umfassen. Sie genoss meine Berührung und kuschelte sich in meinen Armen zurecht. „Kindchen!“ - Wenn sie mich nur nicht so anreden würde! - „Kindchen, es macht Spaß zu zweit zu sein!“ Sie flog vergnügte Schleifen und ich musste mich noch fester an sie klammern. Zum Absprung war es längst zu spät. „Morgen ist der 6. Januar“, dachte ich „der Weihnachtsbaum muss geplündert und der Weihnachtsschmuck in Schachteln auf dem Boden verstaut werden. Ochs und Esel, die Hirten und Könige und das heilige Kind werden elf Monate Urlaub machen“. Als ich an das heilige Kind dachte, schüttelte sich die Frau vor mir. Durch ihre Unruhe verloren wir sofort an Höhe. „Bringen Sie mich bitte nach Hause“, bat ich. „Du kannst du zu mir sagen, Kindchen. Ich heiße Lena. Wir gehören jetzt zusammen.“ „Nein!“, schrie ich laut. „Gut, gut, Kindchen, dann sieze mich weiter... „, murmelte die Frau vor mir auf dem Besen. „Wir gehören nicht zusammen!“ Energisch schrie ich gegen den eisigen Wind der Hexe in den Nacken. Meine Abneigung wuchs. Die Neugier verblasste. Ich wollte jetzt sofort zu Hause sein und am Fest der Heiligen Drei Könige teilnehmen. Und während ich das dachte, schüttelte sich die Frau wieder. Sie hatte Probleme mit dem Wort „heilig“. Das fiel mir auf und war vielleicht auch meine Chance. Immer wenn ich das Wort gebrauchte, wurde sie unruhig und wir verloren an Höhe. Wie konnte ich das übersehen haben. Natürlich! Sie war eine Moorhexe! Zu lange hatte ich Moorhexen und Feen gesucht. Meine ganze Jugendzeit war ich hinter ihnen her gewesen. Und jetzt, wo ich nicht mehr an sie glaubte, begegnete mir ein solches Wesen. Oh Gott, auf was hatte ich mich da eingelassen. „Puh!“ Die Hexe schüttelte angewidert das Gotteswort von sich ab. Sie hatte eindeutig Probleme mit sakralen Begriffen. Das war nun wirklich meine Chance! Mit heiligen Worten könnte ich sie vielleicht zur Umkehr zwingen. Ein Versuch war es auf jeden Fall wert. „Um das heilige Kind anzubeten, kamen die Heiligen Könige nach Bethlehem“, fabulierte ich laut. Die Hexe begann zu zittern. Ich sprach ungerührt weiter: „Das heilige Kind lag in der Krippe im Stall, die Hirten knieten davor und alle lobten Gott und die Schar der heiligen Engel jubilierte. Heilig, heilig, heilig...“ Eigentlich sollten noch ein paar „heilig, heilig“ folgen, aber ein lautes Geräusch unterbrach meinen Redeschwall. Es klang wie das zitternde Dröhnen, wenn ein Flugzeug zum Sturzflug ansetzt. Während ich noch das Geräusch einzuordnen versuchte, schlugen wir hart auf. Benommen blieb ich einen Moment mit geschlossenen Augen liegen. Engelsgesang rings um mich her. Eine Schar Engel begrüßte mich mit himmlischen Melodien. Das war mein erster Gedanke. Aber dann drang das Echo des Sturzfluges von weit her nochmals an mein Ohr. Meine Erinnerung kam zurück. Wir waren abgestürzt! Also war ich tot. Eine andere Erklärung gab es nicht. Aus Großmutters unzähligen Geschichten kannte ich bereits den Tod und das leuchtende Licht des ewigen Himmels. Es war weit heller als die Sonne. Melodien zur Ehre Gottes drangen vom weit geöffneten Himmelstor heraus. Harfen und Schalmeien. Die Musik hörte ich deutlich. Sie klang sanft und glockenrein. „Schlag die Augen auf!“, befahl ich mir. Das Himmelslicht war nicht grell-hell und fröhlich, eher edel unterkühlt. Sollte das der wirkliche Himmel sein? Der Ort jubilierender Engel auf weißen Wolken, so wie meine Großmutter das schilderte? Nichts erinnerte daran. Nur der sanfte Gesang tröstete mich. Aber statt auf einer kühlen Himmelswolke, saß ich auf hartem Eis. Der Balksee war zugefroren. Im kühlen Vollmondlicht tummelten sich tanzend und singend Großmutters niedliche Feen. Oder waren es die kleinen Seelen der unschuldigen Kinder aus Balk oder Bosnien, Afghanistan, Palästina, Irak, Syrien oder sonst woher aus unserem großen, weiten Erdenrund...? © 2008 by Roman RomanoW