Die Geschichte vom Apfel002

  • Die Geschichte vom Apfel Titelillustration 2011
  • Eine uralte Geschichte Zwischen Waage und Skorpion, wenn feuerrote Kugeln von den Ästen herab schreien, reift in mir die uralte Apfelgeschichte immer wieder ganz neu. Aber gerade jetzt, wo mein Freund Frank den feinsinnigsten Erguss zu diesem Thema erwartete, erlosch die Quelle meiner Fantasie. Im März, als der Saft in die Triebe schoss, war es kalt gewesen. Mehr noch. Der Winter wollte sein Zepter partout nicht an den Frühling weiterreichen und bei dem ganzen Gezänk taute das Eis nicht auf. Im Gegenteil. Die Apfelblüte erfror. Der Sommer aber war heiß und trocken wie nie zuvor. Die Apfelbäume legten ihr Blattwerk in Falten und fingen früh an, es abzuwerfen, um selbst zu überleben. Der September verflog. Es wurde Oktober. Doch so sehr ein Apfel für meine Erleuchtung erforderlich gewesen wäre, keiner war zu sehen. Nur vergilbtes Blattwerk, das ein kräftiger Wind mit sich riss. "Es kann doch nicht so schwer sein, die immerwährende Geschichte der Verführung und Versuchung verbal zu aktualisieren", stellte mein Freund Frank fest, "oder leidest du an Einfallslosigkeit?" Ich litt. "Wenn du unbedingt einen roten Apfel zur Anregung benötigst, kaufe ich dir eine derartige Frucht im Supermarkt!" Jetzt litt ich noch mehr. Mein Freund Frank schüttelte seinen schöngeistigen Kopf. Hätte ich ihm erzählen sollen, wie ich zu meinen Ideen kam? Hätte ich ihm beichten sollen, dass meine Einfälle gar keine waren, sondern nur die Aufzählung unglaublicher Vorkommnisse? Hätte dieser Mann wirklich geglaubt, dass Jahr für Jahr mit den roten Äpfeln auch jene züngelnde Schlange durch meines Nachbarn Garten ihren aalglatten Leib schob und mit nichts als ihrer Haut mich zu betören versuchte? Wer glaubt noch in unserer Gesellschaft an paradiesische Nacktheit und flüsternde Schlangen? Das alles hätte mein Freund Frank mir nie geglaubt. Er wähnte hinter meinen Geschichten eine enorme, wenn auch irreale Vorstellungsgabe eines großen Künstlers. Hätte ich ihm widersprechen sollen? In diesem Jahr hingen eben keine liebestoll roten Äpfel in den Bäumen. Kein Wunder, dass das Reptil in Nachbars Garten sich aus dieser unwirtlichen Umgebung verzog. Sicher lag es in einem Nest zwischen bösen Gedanken und Dörrobst. In einem Hamburger Feinkostatelier waren die Äpfel nach Farben sortiert und mit Namen bedacht, die mich in höhere Sphären internationaler Sprachraster eintauchen ließen. Mein Freund Frank begeisterte sich für ein feuerrotes Gewächs mit Namen "Jeanne Antoinette Pompadour". Ich errötete vor so viel Apfel. Zuhause auf meinem Arbeitstisch, gewaschen und mit einem weichen Tuch auf Hochglanz poliert, entpuppte sich dieses französische Früchtchen als der Paradiesapfel schlechthin. Die rote Kugel auf der weißen Platte meines Arbeitstisches ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Mein Kauwerkzeug begann wie ein Mahlwerk zu rotieren. Die Kieferknochen quietschten. Ein gieriges Verlangen nach dieser feuerroten Pompadour überkam mich derart, dass mir das Wasser im wahrsten Sinn des Wortes im Mund zusammenlief. Aus beiden Mundwinkeln sabberte ich wie ein Bullterrier auf meinen Arbeitstisch. Noch hatte ich mich ein wenig unter Kontrolle, aber das änderte sich radikal, als Jeannes aufreizender Duft mein Arbeitszimmer ausfüllte. Mit einem kühnen und raschen Griff schnappte meine Rechte den Apfel und schleuderte ihn gegen die vorderen Schneidezähne, die hinter meinen weit geöffneten Lippen zum Abbiss bereitstanden. "Halt!", schrie ein zirpendes Stimmchen entsetzt. Verwundert und auch ein wenig erschrocken fiel mein Oberkiefer herab und verspritzte etwas von dem lüsternen Wasser zwischen meinen Zähnen. "Was soll das?", dachte ich. "Beiß mich nicht", jammerte der Apfel. "Warum sollte ich?", fragte ich verlogen und legte die rote Kugel widerwillig zurück auf den Tisch. Oben, wo das schwarze Blütensternchen sitzt, erschien der Kopf eines Wurmes. Aber er war keineswegs regen- oder apfelwurmfarbig, sondern goldglänzend wie die Kronjuwelen der britischen Monarchin. Ein Kreuzmuster zwischen zwei listigen Augen schlängelte sich über den Kopf und Rücken hinab zur endlosen Schwanzspitze, die soeben restlos aus dem Apfel geschlüpft war. Bei näherem Betrachten fiel die gespaltene Zunge auf, die nur für einen Moment die vier spitzen Giftzähne nicht verdeckte, aber doch lange genug, um gewarnt zu sein. Im Nu veränderte sich das Bild. Apfel und Schlangenwurm verschwanden in einer wattegleichen Nebelwolke. Doch auch die weißlichen Schwaden verzogen sich rasant. Dafür saß auf meinem Tisch ein so anmutig zartes, weibliches Geschöpf, dass es mir den Atem verschlug. Wie ein Verdurstender in der Wüste fühlte ich meine Schleimhäute rau und beißend im Mund. Die Dame saß nicht richtig auf meinem Tisch. Sie rekelte sich mehr, wodurch mir tiefe Einsichten geboten wurden. Dabei sah sie mich an wie glühende Kohle. "Ich liebe meine brave Ehefrau", buchstabierte ich laut vor mich hin. Es half nichts, die auf meinem Tisch Liegende sah tief in mein lustvolles Herz hinein. "Ich liebe meine Ehefrau!", wiederholte ich mich in einer Art allerletzter Auflehnung. Die Dame schwieg, grapschte sich meine rechte Hand, zog den Ehering von meinem Finger und ließ ihn auf den Steinfußboden fallen. "Piing!", jaulte der Ring, und der Nachhall dieses schrillen Tones schlug wie ein Granatsplitter in meinem Gehirn ein. Genau von dieser Stelle aus wogten Wellen der Lust durch meinen Körper und eine ungeahnte Lüsternheit nahm mich restlos in Besitz. Genussvoll schloss ich die Augen und griff mit beiden Armen nach diesem Prachtweib, um es fest an mich zu ziehen. Sie fühlte sich kalt und glitschig an. Erschrocken öffnete ich meine Augen. Die feiste Schlange in meinen Armen lächelte und schob mir den feuerroten Apfel wieder zwischen die Beißer. "Lass es gut sein, Adam", kicherte sie, "es war nur ein Test, ob es noch klappen können könnte..." © 2011 by Roman RomanoW