Ich glaube damals etwa zwei Jahre alt gewesen zu sein und ich weiß, dass ich auf meinem Töpfchen im Kinderzimmer saß; geduldig, arglos, angstfrei und weltoffen. Doch da kam meine 14 Monate ältere Schwester hereingestürmt und baute sich mit in den Hüften eingestemmten Armen vor mir auf und machte so ein Gesicht, wie es Frauen höchst selten zeigen, so zwischen „was ist dein letzter Wille, Kerl?“ oder „du hast keine Zeit mehr, bete lieber noch einmal gründlich!“
Nun, wie schon gesagt, ich war damals noch nicht so erfahren um all diese Variationen eines bevorstehenden Abschieds zu kennen. Doch die Drohgebärde meiner Schwester und diesen Blick vergaß ich niemals mehr. Sie stand also vor mir, die zarten Füßchen in festem Schuhwerk verstaut, schaute auf mich herab und sagte cool: „Kerl, wenn Du eine Nuss wärst, würde ich Dich jetzt knacken!“
Keine Schonfrist, kein Ultimatum, einfach jetzt…
Ich verstand die Welt nicht mehr, denn ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen mir erwerben können.
Erwähnen müsste ich vielleicht noch, dass kurz vor dieser Bedrohung meine Schwester gelernt hatte, dass man mit festem Schuhwerk und etwas guter Beinarbeit, auch mit Kraft, eine Nuss ohne Nussknacker einfach auf dem Boden mit einem beherzten Fußtritt öffnen kann.
Ich müsste zwar auch schon damals gewusst haben, keine Nuss zu sein, aber ich war mir doch nicht so sicher, ob meine große Schwester dieses Wissen auch schon besaß…
Noch heute, wenn mich eine wunderschöne Frau mit diesem gewissen Nußknackervernichtungsblick begutachtet und erst recht, wenn sie feste Schuhe oder gar Stiefel trägt, gehe ich rückwärts und suche Deckung, obwohl ich altersbedingt inzwischen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon überzeugt bin, weder eine Nuss noch ein Feigling zu sein. Aber wer garantiert mir, dass die Damen das inzwischen auch schon wissen?
Vor kurzem schlenderte ich arglos durch eine leicht ergraute Straße. Die Fenster fast aller Häuser waren rot erleuchtet, was in der grauen Umgebung einladend wirkte. Auch beunruhigten mich nicht sonderlich, dass die meisten Männer die ich sah, zu engen Nadelstreifen-Anzügen, weiße Lederschuhe trugen, deren italienischer Schnitt mich an Bilder aus einem Film über die Cosa Nostra erinnerte. Weit mehr machte mich nervös, dass hier viele Damen, recht sparsam bekleidet, auf überhohen High Heels vor den Häusern patrouillierten, als erwarteten sie Besuch, den sie vor der Wohnung abfangen wollten. Sie rauchten Zigaretten, hatten Haare und Fingernägel eingefärbt und sich mit Schmuck behängt, was in mir die Erinnerung von glitzernd feinem Lametta in bunt geschmückten Weihnachtsbäumen erweckte. Vielleicht war ich auf einem Weihnachtsmarkt oder im Himmel gelandet und die erregend hübschen Damen waren gar keine, sondern Erz- und deren devote Engel.
Und während ich noch verträumt über himmlische Heerscharen und den Teufel nachdachte, fiel ein Schatten auf mich. Hoch über mir, geschätzte 40 Zentimeter über mir, sah ich in ein strenges, bleiches Gesicht. Nur die Lippen waren tiefrot und scheinbar gefroren. Daher sprach die wuchtige Dame auch nicht, sondern wühlte sich mit fleischigen Fingern unter mein Jackett und zwirbelte durch die Seide meines Hemdes hindurch meine Brustwarzen. Sie machte das mit solch energischem Geschick, dass außer einem lauten Aufschrei mir nichts anderes übrig blieb, als das Bewusstsein zu verlieren…

  • Autor Roman RomanoW
  • Art Glosse
  • Jahr 2014