Der Intercity hatte noch niemals Verspätung. Wenigstens noch nie an einem Donnerstag wie dem heutigen. Das wusste er schon am Morgen im Badezimmer, wo die Entscheidung zu treffen war, ob die Stoppeln stehen bleiben oder abrasiert werden sollten. Den Entschluss zu einem Sechstagebart fällte die Uhr.
Ansonsten war nicht viel zu entscheiden in dieser frühen Stunde. Pulverkaffee und ein paar hastige Salzletten waren kein Frühstück wie früher zu Hause, aber im Tausch mit 15 Minuten mehr Schlaf unbezahlbar.
Dorothee würde pünktlich sein, das wusste er. Kein Kunststück. Der Intercity hatte noch niemals Verspätung gehabt. Oder doch?
Er stahl sich die Zeit um nachzurechnen, wie oft der Zug und er in den vergangenen zehn Jahren zur annähernd gleichen Zeit in den Bahnhof einliefen und wann, wer zuerst da war. Der alte Wecker auf dem Küchentisch tickte unbarmherzig. Keine Zeit, keine Zeit… Unter diesem Druck konnte er nicht nachdenken. Doch selbst unter günstigeren Umständen wäre das Ergebnis keinesfalls anders ausgefallen, der Zug war Gewinner, seit Dorothee mit der Bahn fuhr.
Im Sommer noch hatte er gehofft, sie für eine Anreise am Vorabend zu begeistern. Sie hatte sich seinen Vorschlag ruhig angehört und dann abgelehnt. Nein, sie wollte nicht am Abend in einen Zug steigen, wenn die Menschen verschwitzt und verschlissen von der Arbeit kämen. Morgens rochen Mitreisende nach frischer Seife, Brötchen und Kaffee, und Dorothee behauptete sogar, dass man ihnen die Strapazen vom Vortag nicht mehr ansehen könnte. Nein, Dorothee wollte nur morgens in einen Zug steigen. Gegen diese Form der Argumentation gab es kein Mittel.
An einem Spätnachmittag im Herbst hatte er sich dann ihre Argumente zu eigen gemacht und die schlechte Witterung vor der Haustüre zur Hilfe genommen, um sie am Abend von der Rückfahrt mit der Bahn abzuhalten. Er hatte keine Fallen aufgestellt wie ein Jäger. Eher arglos bat er sie ihre Lage zu überdenken und bei ihm zu übernachten. Das Wetter war novemberlich, der Nebel nass und das Feuer im Kamin knisterte einladend. Nichts schien gegen ein Dableiben zu sprechen. Sie waren den ganzen Tag in seinem Bett gewesen, hatten das stürmische Feuer ihrer beider Körper, ekstatische und Schlummerstunden genossen und sich in den der Ernüchterung ähnelnden Pausen immerwährende Liebe geschworen. Eine gemeinsam durchträumte Nacht wäre für ihn das Höchste gewesen. Aber sie stand auf, prüfte ihren makellos schönen Körper vor dem Spiegel und seinen Augen, angelte die in großer Hast verloren gegangenen Wäschestücke zusammen und kleidete sich in einer so erotisierenden Weise an, dass ihm die Sinne schwanden.
Später beim ihrem „dinner for two“ in dem kleinen Lokal am Bahnhof, wo die Kellner sie längst als Stammgäste begrüßten, nahm sie seine rechte Hand zwischen ihre Hände, so, wie seine Mutter ihm als Kind die Hände nach einer Schneeballschlacht erwärmte. Er schmolz dahin…
„Liebster“, hauchte Dorothee und ihre Stimme schien in Tränen gebettet, „ich müsste weinen, wenn ich daran dächte, wie wundervoll eine Nacht zu zweit sein könnte, aber was würden die Leute denken, wo wir doch erst seit zehn Jahren verlobt sind…“

  • Autor: Roman RomanoW
  • Art: Erzählung
  • Jahr: 2011