Über dem Sievekingplatz lag, ähnlich wie am Vortag, leichter, wenn auch lichter Nebel. Es war früh am Tag und die ehrlichen Hamburger lagen noch in ihren weißen Bettlaken. Keiner hätte jetzt darüber nachgedacht, ob sich daran in den nächsten zwei Stunden etwas ändern könnte. Nur Holbein der Jüngere gehörte nicht zu jenen Bürgern.
Für alle die es noch nicht wissen, er war der kleine Bruder von Holbein dem Älteren und keinesfalls mit jenen künstlerischen Holbeins des Mittelalters verwandt oder verschwägert – was immer das auch heißen mag. Nein, Holbein war bei Leibe kein Künstler. Im Gegenteil. Aber darüber wollen wir an dieser Stelle nicht sprechen, weil, wie ich vermute, unser Holbein über seine berufliche Qualifikation gerade an diesem Ort am liebsten geschwiegen hätte.
Der Nebel kam den beiden Gestalten, die behände am großen Eisengittertor des Hamburger Ziviljustizgebäudes hantierten, nicht ungelegen. Der kleinere von beiden stand an der Innenseite, der größere außerhalb des Tores. Emsig schoben sie Weinflaschen durch die kreisrunden Öffnungen der schwungvollen Kunstschmiedearbeit. Der scheinbar jüngere Mann bückte sich in großer Geschwindigkeit immer wieder zu den vier Weinkisten hinab, zauberte mit der linken Hand eine Flasche nach der anderen hervor, reichte diese in seine rechte Hand weiter, kniff ein Auge zu, als ginge es darum Kimme und Korn anzufixieren, und schob dann millimetergenau Flasche um Flasche durch eine der runden Öffnungen im Gitter. Am anderen Ende schnappte die linke Hand des älteren Mannes die Flaschen am Hals, drehte sie über Kopf mit großer Geschwindigkeit, ließ los, beobachte die Flugbahn, die kurz darauf in seiner rechten Hand endete. Flasche und Hand vibrierten noch, als der Mann einen anmutigen Ausfallschritt nach vorne auf die Ladefläche des Fahrradanhängers zumachte. Eine Bewegung wie die eines Fechters. Das war unverkennbar.
„Sicher ein Student einer schlagenden Verbindung“, dachte der Betrachter dieser seltsamen Szene. Aber der Beobachtete war zu alt, um noch ein Student zu sein und zu beweglich, um alt genannt zu werden. Er war schwer einzuschätzen in den schnellen Bewegungen, mit denen er die Flaschen vom Gitter bis in den Korb auf den Fahrradanhänger beförderte. Da der Zuschauer nichts anderes zu tun hatte und das Schauspiel belustigend fand, blieb er stehen und zählte die Flaschen. Die beiden Männer kümmerten sich nicht um ihn.
Achtunddreißig, neununddreißig, vierzig… Der Zuschauer starrte auf den Anhänger hinab, doch es kam kein Nachschub. Stattdessen setzte sich der Anhänger in Bewegung. Der Beobachter sah ihm nach. Er wollte schreien, den Davonjagenden zurückrufen. Zu spät. Schon schoss dieser nach rechts über den Parkplatz und verschwand im Nebel.
Der Beobachter drehte sich blitzschnell dem Tor zu, um wenigstens den jüngeren der Weindiebe zu fassen. Aber auch der rannte weg, tief hinein ins Hofgelände des Ziviljustizkomplexes.
„Halt! Stehen bleiben!“ schrie er. „Wie heißen Sie?“
„Holbein der Jüngere“, klang es aus dem Nebel an sein Ohr.
Dem aufgeregten Mann vor dem Tor fiel ein Zeitungsartikel vom Vortag ein. Unter dem Titel „Kultur und Justiz“ ging es um eine Veranstaltungsreihe des Hamburgischen Richtervereins, in der zeitgenössische Künstler ihr Werk vorstellen.
„Holbein der Jüngere,“ staunte der Mann, „dass der noch lebt…“