Zwischen dem Dorf und der leichten Anhöhe lag eine weite grüne Fläche, die sich von früheren Wiesen nur dadurch unterschied, dass es weder eine Blume noch einen Maulwurfshügel zu sehen gab. Nur endlos verstepptes Grünland und abgestorbene Baumstümpfe. Sonst nichts. Selbst die Pappeln hinter dem Graben sahen aus wie Kreuze auf einem Friedhof.
Der Mann lehnte versonnen an einem der toten Stämme, die früher gewaltige Apfelbäume gewesen waren. Das war lange her. Er versuchte sich zu erinnern. Als sein Vater die Kronen der Bäume absägte, ging der Mann noch zur Schule. So lange schon standen die kahlen Stämme.
„Komisch“, dachte er, „niemals war ein Trieb aus den Stämmen hervorgekommen, obwohl das doch nach diesem Radikalschnitt hätte längst geschehen müssen. Aber die ehemaligen Bäume standen wie mahnende Finger in der Landschaft und überhaupt, in seines Vaters Garten und auf den Ackerflächen und Wiesen sah es aus, als ob der Tod umginge.
„Vielleicht lag es daran, dass Vater viel zu viel Jauche ausgebracht hatte“, dachte der Mann. Dabei hatten sie gar kein Vieh im Stall gehabt. Und soweit er sich auch in die Vergangenheit zurückversetzte, sie hatten nie welches. Bis auf Gerlinde. Doch sie zählte nicht zu den Kreaturen, die man landauf und landab als Nutzvieh bezeichnete. Gerlinde fraß nicht, sie dinierte, und sie gab auch keine Milch, sondern soff diese aus fein geschliffenen Kristallschüsseln. Gerlinde hatte Familienanschluss. Schon immer. Und Gerlinde hatte ein biblisches Alter. Sie musste, der Mann rechnete an seinen Fingern nach, sie musste in diesem Frühjahr 26 Jahre alt geworden sein. Aber gerade jetzt, als er an sie dachte, entdeckte er nirgendwo auch nur etwas, was ihn an sie erinnert hätte. Im Gegenteil sah es so aus, als habe jemand sich alle Mühe gegeben, sämtliche Spuren zu verwischen, damit keine Erinnerung mehr möglich wäre. Gerlinde schien wie vom Erdboden verschwunden.
„Das ist unmöglich“, sagte der Mann laut. Aber er entdeckte nichts, das ihn, wie früher, wo überall Spuren und kleine Verwüstungen sichtbar waren, an Gerlinde erinnerte. Damals war es sogar oft so gewesen, dass er sich heimlich wünschte, Gerlinde würde das Haus und den Hof verlassen und nie, nie mehr zurückkehren. Doch richtig ernsthaft waren diese Wünsche nie und so blieb Gerlinde. Daher war es für ihn jetzt auch undenkbar, sie hier nicht aufzufinden.
Der Mann lauschte hinaus in die grüne Fläche. Er ging sogar so weit, sich auf den feuchten, nach verfaulten Blättern riechenden Boden zu legen, um mit seinem auf die Erde gepresstem Ohr, Gerlindes Tritte wahrzunehmen. Aber alles blieb still und irgendwie geisterhaft unbeweglich.
Unerträgliche Hitze lag über dem Erdreich, und welkes Laub hing regungslos an den Ästen der wenigen Pappeln, die noch am Rande des ausgetrockneten Grabens standen.
Früher, ach früher, da rauschten die silberfarbigen Blätter klirrend im beständig leichten Wind. Aber jetzt zog keine Brise übers Land. Es schien, als wäre alles ausgestorben.

Der Mann ging um den Anbau des halb zerfallenen Elternhauses herum und hinüber zu der großen Scheune, dort, wo Gerlinde sich früher immer in den Schatten des Dachüberhanges gelegt hatte. Doch dieser Überhang war gar nicht mehr da und durch das Dach der Scheune konnte jedermann mitten in den Hochsommerhimmel hinauf sehen. Das Reet war vermodert und die Latten teilweise zerbrochen herabgestürzt. Lange starrte der Mann durch das Wirrwarr hinauf in das endlose Blau des hohen Himmels.
„Ob Gerlinde jetzt dort oben saß und vielleicht zu ihm herabblickte?“, dachte er, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, weil er sich an jenen Priester erinnerte, der ihm früh den Glauben an einen Gott, der auch Hunde und Katzen und alles Getier liebte, auszureden versuchte. Das hatte er dem Gottesmann nie verziehen. Gerade dieser Kirchenmensch ließ ihn immer weiter von Kirche und Glauben abdriften.
Dennoch hoffte er in diesem Moment, Gerlinde sei dort oben, wenn sie nicht mehr hier unten sein konnte.
Wie lange war es her, dass er feuchte Augen bekommen hatte? Wie selten berührten ihn noch die Dinge um ihn herum? Er war kein Sonderling und auch kein Menschenverächter geworden, er war nur einsam.
Allein, ganz allein auf dieser Welt zu sein, war nichts für einen, der in einer großen Familie aufgewachsen war und immer Menschen um sich hatte.
Dem Mann ging es nicht gut. Ein bitterer Hustenreiz schüttelte ihn mehrmals am Tage und wenn er den Speichel angewidert ausspuckte, hinterließ dieser rote Kleckse auf dem ausgetrockneten Boden.
Der Mann überlegte, wann er das erste Mal diesen Husten wahrgenommen hatte und ob überhaupt. Dabei beschlich ihn das Gefühl, der Husten habe ihn hinterrücks angefallenen, so, wie Raubkatzen ihre Opfer packen. Danach ging alles sehr schnell. Plötzlich gehörte dieses unangenehm heisere Bellen zu ihm, wie einst Gerlinde.
Anfangs hatte ihn der Husten gestört, es ging sogar soweit, dass er sich ängstigte, andere damit zu stören. Aber da er allein war, störte es niemand, ob er hustete oder schwieg.
Dann kam die Zeit, wo er sich an alles gewöhnte und apathisch irgendwo saß und über den Sinn des Unsinns nachdachte. Er weinte ab und zu, doch seine rot geränderten Augen wurden nicht mehr feucht.
In der Folgezeit begann er sogar den Husten zu lieben, weil dieser das einzige Geräusch verursachte, das, abgesehen vom gelegentlichen Knarren berstenden Gebälks, Leben simulierte und ihn glauben ließ, nicht einsam zu sein.
Irgendwann schrie er nachts nach Gerlinde. Von diesem Tag an zog er umher, sie zu suchen. Aber er fand sie nicht.
Gegen Abend, als es wieder eisig kalt wurde, humpelte er zu seinem brüchigen Bretterverschlag zurück. Jeden Abend tat er das. Am windschiefen Balken des Eingangs hing ein vergilbtes Bild, dessen Ränder gewellt und eingerissen waren, aber immerhin war es ein Foto von Gerlinde, als diese schon zwölf Tage alt war. Es war kein schlechtes Bild, nur der Zahn der Zeit hatte seine Spuren hinterlassen. Nun hing es da, der Öffentlichkeit zugänglich und mit einem unübersehbar im Balken über der Türe eingeritzten Vermerk:
WANTED!
This is Gerlinde.
Please – help me – please!

  • Autor Roman RomanoW
  • Art Erzählung
  • Jahr 2010